Die Sonne lacht, endlich ist es warm – auf ins Grüne, am besten ans Meer, in die Berge, an den See! Mit dem Zug raus aus der Stadt, dann mit dem Fahrrad die herrlichen Radwege entlang, natürlich mit Kind und Kegel. Doch schon am Bahnsteig liegen die Nerven blank: Menschen, Kinderwägen und Räder stauen sich lange, schon bevor der Zug einfährt, dann kommt er verspätet, und als die Türen sich öffnen, platzen die Menschen und Kinderwagen und Räder schon aus dem Zug heraus. Alle zetern und schwitzen und wollen rein, aber sie wissen: Nicht alle werden es schaffen.
Wer sich aus Großstädten und Ballungszentren Richtung Ostsee, Nordsee oder einfach auf’s Land aufmacht, kommt oft gar nicht mehr rein in die Regiobahn – und wenn doch, dann nicht mehr zurück, weil es auf der Rückfahrt noch voller wird. Also auf die nächste Bahn warten. Die dann auch schon voll ist.
Wo sind denn die zusätzlichen Züge? Die Aushilfslokführer und Zugbegleiter*innen? Warum gibt es keine Puffer und Reserven? Kann man da nicht einfach einen Waggon mehr anhängen? Oder einfach Räder am Zielbahnhof leihen? In den Radio-Nachrichten laufen derweil die Warnungen: „Die Einführung des 49-Euro-Ticket führt voraussichtlich zu mehr Freizeitverkehr mit der Bahn“. Was eigentlich Grund zur Freude wäre – aber nicht in diesem real existierenden Verkehrssystem: „Über das lange Wochenende können nicht mehr Kapazitäten bereit gestellt werden, denn es fehlt an Fahrzeugen und an Personal.“ Reisende sollen früher aufstehen, oder daheim bleiben.
Aber nicht das 49-Euro-Ticket ist Grund für die Misere. Seit 1990 wurde in der Bundesrepublik die neoliberal ausgerichtete Privatisierung der Bahn durchgesetzt. Länder und Kommunen müssen also den öffentlichen Verkehr EU-weit ausschreiben – und den Wettbewerb gewinnen nicht die besten, sondern die billigsten Anbieter. Der Druck auf Beschäftigte und Arbeitsbedingungen wächst und es gibt mehr Störungen im Betriebsablauf. Im integrierten, gemeinnützigen Bahnbetrieb könnten Reservezüge und Loks an zentralen Knotenpunkten vorgehalten und Personal flexibel eingesetzt werden. Wenn unterschiedliche Betreiber in dem komplexen Bahnnetz unterwegs sind, funktioniert das nicht.
Dazu kommt die Vernachlässigung des „Umweltverbundes“ aus Öffis, Fuß und Fahrrad durch die vorherrschende Politik. Seit Jahren hält das Angebot mit dem Bedarf nicht Schritt – weil Aufmerksamkeit und Investitionstätigkeit der Verkehrsminister so sehr aufs Autofahren ausgerichtet ist. Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr verfügt über rund 1.200 Mitarbeiter*innen. Davon waren im Jahr 2020 ganze 11 für den Fuß- und Radverkehr zuständig; für (Bus und) Bahnen waren es 19. Das ist ein politisch gewollter Mangel.
Den die Deutsche Bahn hübsch veranschaulicht. Unter der Rubrik „Fahrradmitnahme im Regionalverkehr“ stellt sie auf ihrer Homepage eine Deutschlandkarte zur Verfügung, auf denen all die Strecken rot eingezeichnet sind, auf denen saisonal eine hohe Auslastung erwartet wird (weil sie zu schönen Radwanderwegen führen). Sie empfiehlt in diesen Fällen eine andere Verbindung zu wählen – also irgendwo anders hin zu fahren – oder ein Fahrrad am Ausstiegsbahnhof zu leihen.
Ein Leihsystem wäre ja fein! Wenn an allen relevanten Reisezielen geeignete Tourenräder zu kleinen Preisen verfügbar wären. Und wenn die vorab gefunden und gebucht werden könnten, denn was, wenn ich in einem Dorf ankomme, und dann sind dort alle Leihräder weg? Oder kaputt? So eine zentrale App müsste es geben, die einfach zu bedienen ist – aus einer (öffentlichen) Hand. Für alle Bahnhöfe und auch für die Fahrradplätze in allen Zügen. Gibt es aber nicht. Hochbezahlte IT-Leute werden von den Automobilkonzernen eingekauft, um an autonomen Autos für wenige Wohlhabende zu tüfteln, statt digitale Tools für die Verkehrswende zu entwickeln. Wo bleibt hier die soziale Fantasie? Bundesverkehrsminister Wissing will vor allem Autobahnen ausbauen.
So bleibt die Sache mit der Verkehrswende bei den Bundesländern liegen. Hier trippeln manche vorwärts, ohne Rückenwind vom Bund. Der Verkehrsverbund Berlin Brandenburg bastelt seit 2016 daran, „multimodale“ Angebote sichtbar zu machen: Auf vbb.de/fahrinfo kann in die Streckenkarte gezoomt werden. Man kann neben den Halten von Bahnen, Bus und Tram zumindest sehen, wo es Fahrradverleih gibt und wie der Anbieter heißt – auch wenn man von dort nicht direkt zum Radverleih kommt, geschweige denn angezeigt bekommt, wie viele Räder dort noch vorhanden sind. Rheinlandpfalz hat für „MoseLux“ Regio Verbindungen ausgeschrieben, die künftig dichtere Takte, 30 Fahrradplätze je Fahrzeug und (von März bis Oktober) den Einsatz von Servicekräften zur Fahrradbeförderung als Unterstützung für die Fahrgäste vorsieht. Und Baden-Württemberg setzt auf das Freizeitexpress-Angebot mit Extra-Zügen von März bis Oktober auf 14 touristischen Strecken im Ländle mit besonders viel Platz für kostenlose Fahrradmitnahme in teils historischen Bahnen.
In früheren Zeiten hat die Deutsche Bahn auch mal Sonderreisezüge eingesetzt, die in Ferienzeiten Urlauber*innen ans Meer oder in die Alpen brachten. So etwas braucht eine Renaissance, und eben auch auf kürzeren Strecken. Doch bei der Bahn fehlen in den vergangenen Jahren selbst im alltäglichen Normalbetrieb Fahrzeuge. Oft verkehren Bahnen kürzer als vorgesehen. Teils rollen alte Ersatzfahrzeuge; immer wieder fallen Verbindungen ganz aus.
Eine eigentlich banale Verbesserung könnte jetzt sofort umgesetzt werden: Nulltarif für Fahrräder überall. Denn derzeit hat jeder Verkehrsverbund seinen eigenen Rad-Tarif; mal sind es null, mal sind es sechs Euro, mal gibt es ein Ticket für eine Zone, mal ganztags, mal für zwei Stunden in eine Richtung. Und wer einen der seltenen Fahrradplätze in einem Fernzug ergattert, zahlt 9 Euro pro Fahrt.
Immerhin ist in allen IC die Mitnahme von Fahrrädern möglich – zumindest theoretisch, wenn der Allzweckwagen im IC 2 nicht für Kinderwagen, Rollstühle oder Koffer gebraucht wird, für die es keinen anderen Raum gibt. Nicht selten kämpfen dann gestresste Eltern mit gestressten Radlerinnen um jeden Zentimeter, und Menschen, die in Rollstühlen unterwegs sind, meiden die Bahnfahrt an Ausflugstagen lieber ganz.
Die meisten ICE bieten gar keine Möglichkeit, ein normales Fahrrad einzuladen – das sind 188 ICE-Modelle der älteren Baureihen 1, 2 und 3. Von denen haben die meisten zwar ein Redesign erhalten, aber eben kein Radabteil. Lohnt nicht, sagt die gewinnorientierte DB-Fernverkehr. Dann gibt es noch 70 Modelle ICE-T (die mit der Neigetechnik), bei denen die Deutsche Bahn 2019 begonnen hat, einige mit je drei Fahrradplätzen nachzurüsten. Serienmäßig gibt es Radstellplätze in den ICE 4 (davon sind 112 im Einsatz), im neuen ICE neo3 und im ICE L, der ab 2025 kommt. In jedem dieser tollen Züge können maximal acht Fahrräder mitfahren. Wer es mal versucht hat, weiß: Auch diese Plätze sind meist ausgebucht.
Und das nicht nur während der sommerlichen Feiertage. Wer jeden Tag mit Fahrrad und Bahn zur Arbeit pendelt, wird ebenfalls nicht gut bedient. Sichere Abstellplätze am Bahnhof sind genauso Mangelware wie sichere Mitnahmemöglichkeiten im Zug. Dabei wäre der deutliche Ausbau von Bike & Ride erheblich schneller und kostengünstiger machbar als die Ausweitung von Park & Ride – und würde weniger Fläche versiegeln. Außerdem lassen die meisten Bahnhöfe viel zu wünschen übrig, was Barrierefreiheit betrifft. Dabei wäre es wenigstens für die Fahrradfahrer schon hilfreich, wenn es ordentliche Schieberillen am Rand der Treppen gäbe. Für Menschen mit Behinderung wäre es dringend notwendig, die Fahrstühle in Schuss zu halten.
Wie sähe unsere Bahn-Utopie aus? Im vergangenen Sommer hat die „Brancheninitiative Fahrrad und die Bahnen“ ein Zielbild entwickelt: Fahrgäste sollen ihre Fahrräder sicher und kundenorientiert an Bahnhöfen abstellen können. Bike-Sharing und Fahrradverleih soll kommunal integriert angeboten und mit Bahntickets kombiniert gebucht werden können. Einheitliche App-Anwendungen sollen Fahrrad und Bahnen entlang der gesamten Reisekette verknüpfen: Schon vor der Fahrt – und in Echtzeit. Da zeigt eine App dann an, in welchen Zügen Räder mitgenommen werden können, an welchen Bahnhöfen es Stellplätze gibt und an welchen Stationen Räder stehen, die direkt geliehen werden können. Vereinfachte und kundenfreundliche Tarifstrukturen sollen auch Steuerungsmöglichkeiten bieten, um die Auslastung zu optimieren. Und: Es braucht mittelfristig mehr Zug- und Mitnahmekapazitäten mit funktionaleren Schienenfahrzeugen und komfortablere Anlagen, damit mehr Zugreisende und auch Fahrräder befördern zu können. Einfach einen Zug mehr! Einfach einen Wagen mehr!
Die Initiative will eine Aufbruchstimmung bei den Verkehrsverbänden, Eisenbahnunternehmen und in der Politik zu erzeugen. Klingt alles gut – toitoitoi! Allerdings wird es nicht reichen, die Daumen zu drücken. Angesichts der Borniertheit und Autofixierung der herrschenden Verkehrspolitik ist viel Veränderungsdruck nötig.
Vor allem geht es um zweierlei: das nötige Geld, um Bahninfrastruktur zu verbessern, mehr gute Schienenfahrzeuge anzuschaffen oder die Stationen umzugestalten. Und motiviertes Personal, um all die sinnvollen, aber oft zu schlecht bezahlten Aufgabe zu erfüllen. Geld ist im Bund häufig eine Frage der Verteilung: Was für den Autobahnausbau ausgegeben wird, fehlt anderswo. Jeder Kilometer, der da betoniert werden soll, frisst Millionen Euro und wertvolle Ressourcen, die für Bahn & Bike gebraucht werden. Und wer eine schöne Bahnfahrt will, der sollte sich jetzt auch solidarisch zeigen mit den Bahnbeschäftigten, die für höhere Löhne streiken. Sie sind diejenigen, die sich nicht nur mal an Pfingsten durch die vollgestopften Züge oder durcheinander gekommene Takte kämpfen müssen, sondern jeden Tag. Und nur wenn die Arbeitsbedingungen stimmen, können alle Stellen besetzt werden, die nötig sind, um dieses System besser zu machen.
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Der Text erschien in der Wochenzeitung DER FREITAG am 01.06.2023